Deutsche Obugristen
Wolfgang Steinitz
*28. Februar 1905 in Breslau, † 21. April 1967 in Berlin; Finnougrist, Russist und Volkskundler. Studium in Breslau und Berlin, u.a. bei Ernst Lewy.
Steinitz unternahm 1924–1926 Reisen nach Finnland, Estland und in die SU. 1933 wurde er aus der Universität Berlin entlassen, 1933/34 emigrierte er über Estland in die SU und wurde Professor für finno-ugrische Sprachen am Leningrader Institut der Nordvölker. 1935 verbrachte er sechs Monate bei den Chanten, wo er umfangreiches Text-, grammatikalisches und lexikalisches Material sammelte. In der Folge arbeitete er mit chantischen Studenten vom Herzen-Institut in Leningrad zusammen. 1937 emigrierte er nach Schweden und arbeitete ab 1943 am Ungarischen Institut an der Universität Stockholm. Ab 1946 leitete er das Finnisch-ugrische Institut der Humboldt-Universität zu Berlin.
1939 veröffentlichte Steinitz in zwei Bänden eine Textsammlung aus dem Synja- und Scherkal-Chantischen mit sprachlichen und ethnographischen Kommentaren sowie Skizzen der Grammatik. Mit dem Prager Zirkel stand er in engem Kontakt, entsprechend untersuchte er die Phonologie der chantischen und mansischen Dialekte und verfasste je eine Monographie über den Vokalismus dieser beiden Sprachen. Den Vokalwechsel der obugrischen Sprachen hielt er zu diesem Zeitpunkt für eine aus dem Finno-Ugrischen ererbte Erscheinung; 1965 gab St. bekannt, dass sich sein Verdacht nicht erhärtet hätte. Weitere Arbeiten verfasste er zu russischen, syrjänischen (komi), türkischen, selkupischen und nenzischen Lehnwörtern im Chantischen.
Ein schulenbildender Streit entfachte sich anlässlich der Frage der permischen Lautgeschichte, die der große Finnougrist Erkki Itkonen mit Hilfe sogenannter "inconditioned splits" zu erklären versuchte, wogegen St. vehement argumentierte.
Neben seinen linguistischen Arbeiten widmete sich St. vermehrt folkloristischen Themen: in seiner Dissertation behandelte er die Volksdichtung der Karelier und Finnen; in späteren Werken befasste er sich mit der epischen Dichtung und den Märchen der Obugrier, sowie mit ethnographischen und mythologischen Themen.
Weitere Arbeitsgebiete stellten die Sammlung deutscher Volkslieder, ein Lehrbuch der russischen Sprache sowie das von ihm mitbegründete Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache dar.
(Anna Widmer)
Links:
Artikel auf Wikipedia "Wolfgang Steinitz".
Biographie von Wolfgang Steinitz, herausgegeben von Dr. Wolfgang Kaschuba und Steinitz' Sohn, Prof. Dr. Klaus Steinitz.
Rezension der oben genannten Biographie (PDF). Veröffentlicht in Lomonossow 1/2006.
Persönliche Erinnerungen von Nikolay Ivanovich Teryoshkin an seinen Schüler Wolfgang Steinitz (PDF). Published in Lomonossow 02/2002.
Werke (Auswahl; Weiteres s. Gesamtbibliographie):
- Steinitz, Wolfgang. (1934). Der Parallelismus in der finnisch-karelischen Volksdichtung, untersucht an den Liedern des karelischen Sängers Arhippa Perttunen. (FFC 115.) Helsinki XIII + 219 S.
- Steinitz, Wolfgang. (1939). Ostjakische Volksdichtung und Erzählungen aus zwei Dialekten. 1. Teil. Grammatische Einleitungen und Texte mit Übersetzungen. (CLSE XXXI.) Tartu. XIII + 460 S.
- Steinitz, Wolfgang. (1940). Ostjakische Volksdichtung und Erzählungen aus zwei Dialekten. 2. Teil. Stockholm. 214 S.
- Steinitz, Wolfgang. (1944). Geschichte des finnisch-ugrischen Vokalismus. (Acta Instituti Hungarici Universitatis Homiensis, Series B, Linguistica 2.) Stockholm. IV + 144 S.
- Steinitz, Wolfgang. (1950). Ostjakische Chrestomathie mit grammatikalischem Abriß und Wörterverzeichnis. 2., verb. Aufl. Leipzig. 169 S.
- Steinitz, Wolfgang. (1950). Geschichte des ostjakischen Vokalismus. Berlin. (Finnisch-ugrische Studien 1.) VIII + 138 S.
- Steinitz, Wolfgang. (1952). "Geschichte des finnisch-ugrischen Konsonantismus." In: Acta Instituti Hungarici Universitatis Holmiensis, Series B, Linguistica: 1. Stockholm. S. 15–39.
- Steinitz, Wolfgang. (1955). Geschichte des wogulischen Vokalismus. Berlin. XI + 366 S. (Finnisch-ugrische Studien 2.)
- Steinitz, Wolfgang. (1964). Geschichte des finnisch-ugrischen Vokalismus. 2., mit einem Anhang und Wortregistern erw. Aufl. Berlin. (Finnisch-ugrische Studien 4.) VIII + 176 S.
- Steinitz, Wolfgang. (1966-1993). Dialektologisches und etymologisches Wörterbuch der ostjakischen Sprache. Unter Mitarb. v. Lieselotte Böhnke, Gert Sauer und Brigitte Schulze. Berlin.
- Steinitz, Wolfgang (Hg.). (1968). Kalevala. Rostock. 408 S.
- Steinitz, Wolfgang. (1975; 1976; 1980; 1989). Ostjakologische Arbeiten. Bd. I: Ostjakische Volksdichtung und Erzählungen aus zwei Dialekten. Texte. Wiss. bearb. v, Gert Sauer. – Bd. II: Ostjakische Volksdichtung und Erzählungen aus zwei Dialekten. Kommentare. Wiss. bearb. v. Gert Sauer und Brigitte Schulze. – Bd. IV: Beiträge zur Sprachwissenschaft und Ethnographie. Wiss. bearb. v. Ewald Lang, Gert Sauer und Renate Steinitz. – Bd. III: Texte aus dem Nachlass. Wiss. bearb. von einem Autorenkollektiv unter der Leitung v. Gert Sauer. Red.: Liselotte Hartung, Petra Hauel, Gert Sauer, Brigitte Schulze. Budapest – Berlin – Den Haag.
Gert Sauer
*1932 Frankfurt an der Oder. Studium der Finnougristik in Berlin bei Wolfgang Steinitz; Abschluss 1956 mit der Arbeit Die Nominalbildung im Ostjakischen (Vach-Vasjuganer Dialekt).
1956 trat S. eine Aspirantur an der Humboldt-Universität an; 1959 erfolgte seine Promotion mit der Arbeit Die Nominalbildung im Ostjakischen. Ab 1959 war S. an der Akademie der Wissenschaften zu Berlin tätig, wo er unter der Leitung von W. Steinitz am DEWOS arbeitete. 1967 übernahm er mit zwei, später drei Kolleginnen die Herausgabe des DEWOS und zeichnete als Schlussredakteur der Einträge bis 1993 verantwortlich. Ab 1966 hielt S. Vorlesungen im Fach Finnougristik und betreute zahlreiche Diplomarbeiten und Dissertationen zu finnougristischen Themen. Nach dem Abschluß des DEWOS übernahm S. die Leitung der Arbeitsgruppe mit dem Thema "Finnougrisch-russische Sprachkontakte am Beispiel des Ostjakischen". Als Herausgeber und wissenschaftlicher Betreuer besorgte er die Veröffentlichung der vierbändigen für die Ostjakologie so wichtigen Ostjakologischen Arbeiten von W. Steinitz. Er organisierte das 1. Internationale Symposion für uralische (finnisch-ugrische) Phonologie in Berlin 1974.
Neben der Monographie zur Nominalbildung des Chantischen verfasste S. diverse Aufsätze, über die Phonologie verschiedener chantischer Dialekte, über Nominalstammtypen, die Morphologie der Adjektive, Verbalpräfigierung, Lexeme deskriptiven Charakters sowie einige Aufsätze zu allgemein finnougristischen Themen. Einen weiteren Schwerpunkt bilden die Lehnbeziehungen zwischen dem Chantischen und der geographisch angrenzenden Sprachen: dem Komi, Selkupischen, Tatarischen und Russischen.
(Anna Widmer)
Werke (Auswahl; Weiteres s. Gesamtbibliographie):
- Sauer, Gert. (1967). Die Nominalbildung im Ostjakischen. (Finnisch-ugrische Studien 5.) Berlin.
- Dialektologisches und etymologisches Wörterbuch der ostjakischen Sprache. Unter Mitarb. v. Lieselotte Böhnke, Gert Sauer und Brigitte Schulze. Berlin.
- Sauer, Gert. (Hg.) (1975; 1976; 1980; 1989). Ostjakologische Arbeiten. Bd. I: Ostjakische Volksdichtung und Erzählungen aus zwei Dialekten. Texte. Wiss. bearb. v, Gert Sauer. – Bd. II: Ostjakische Volksdichtung und Erzählungen aus zwei Dialekten. Kommentare. Wiss. bearb. v. Gert Sauer und Brigitte Schulze. – Bd. IV: Beiträge zur Sprachwissenschaft und Ethnographie. Wiss. bearb. v. Ewald Lang, Gert Sauer und Renate Steinitz. – Bd. III: Texte aus dem Nachlass. Wiss. bearb. von einem Autorenkollektiv unter der Leitung v. Gert Sauer. Red.: Liselotte Hartung, Petra Hauel, Gert Sauer, Brigitte Schulze. Budapest – Berlin – Den Haag
- Sauer, Gert. (Hg.) (1987). Parallelismus und Etymologie. Studien zu Ehren von Wolfgang Steinitz anläßlich seines 80. Geburtstages am 28. Februar 1985. Hg. Ewald Lang, Gert Sauer. (Akademie der Wissenschaften der DDR, Zentralinstitut für Sprachwissenschaften. Linguistische Studien Reihe A Arbeitsbericht 161/I–II.) Berlin.
- Sauer, Gert. (1963). "Die syrjänischen Lehnsuffixe im Ostjakischen." – CIFU. Budapest. 193–196.
- Sauer, Gert. (1968). "Nominalstämme auf *-a / *-ä im Ostjakischen" – CIFU II/I. Helsinki. 459–461.
- Sauer, Gert. (1975). "Phonologische Analyse der ostjakischen Mundart von Tremjugan." – Symposion Phonologische Analyse der uralischen Sprachen. Berlin 1974 (Linguistische Studien. Reihe A. Arbeitsberichte 22. Akademie der Wissenschaften der DDR. Zentralinstitut für Sprachwissenschaft). Berlin. 130–155.
- Sauer, Gert. (1975). "Zu den russischen Lehnwörtern im Ostjakischen (Chantischen). "– CIFU III/I. Tallinn. 677–680.
- Sauer, Gert. (1980). "Zum Vergleich lexikalischer Bedeutungsstrukturen." – CIFU V/VII. Turku. 123–127.
- Sauer, Gert. (1983). "Zur morphologischen Charakterisierung der Adjektive im Ostjakischen." – Nyelvtudományi Közlemények 85 417–419.
- Sauer, Gert. (1984). "Der Vokalismus des südostjakischen Irtysch-Dialekts." – Studien zur phonologischen Beschreibung uralischer Sprachen. Budapest. 121–127.
- Sauer, Gert. (1986). "Die deskriptive Lexik im Ostjakischen." – Nyelvtudományi Közlemények 88. 238–242.
- Sauer, Gert. (1990). "Ostjakisch-selkupische lexikalische Beziehungen." – CIFU VII/18 (Sessiones plenares et symposia). Debrecen. 133–138.
- Sauer, Gert. (1992). "Lautentsprechungen in russischen Lehnwörtern finnisch-ugrischer Sprachen." – Cornelius Hasselblatt, Rogier Blokland (Hg.): Finnisch-ugrische Sprachen zwischen dem germanischen und dem slawischen Sprachraum. Vorträge des Symposiums aus Anlaß des 25-jährigen Bestehens der Finnougristik an der Rijksuniversiteit Groningen, 13.–15. November 1991. Amsterdam. 151–155.
- Sauer, Gert. (1992). "Zur Verbalpräfigierung im Ostjakischen." – Festschrift für Károly Rédei zum 60. Geburtstag. Wien – Budapest. 399–402.
- Sauer, Gert. (1996). "Zur Periodisierung der russischen Lehnwörter im Ostjakischen." – Lars-Gunnar Larsson (Hg.): Lapponica et Uralica. 100 Jahre finnisch-ugrischer Unterricht an der Universität Uppsala. Vorträge am Jubiläumssymposium 20.–23. April 1994. Uppsala. 273–279.
- Sauer, Gert. (2004; 2005). "Formeln und Formelhaftes in ostjakischen Märchen." – Finnisch-Ugrische Mitteilungen 28/29 (Festschrift für Ingrid Schellbach-Kopra zum 70. Geburtstag.) Hamburg.
Gerhard Ganschow
*5. Dezember 1923 in Berlin. Ab 1948 Studium der Philosophie, Germanistik und Finnougristik an der Humboldt-Universität Berlin.
1952 Staatsexamen bei Wolfgang Steinitz mit einer Arbeit zur Verbalbildung im Vach-Vasjugan-Dialekt des Ostjakischen. Promotion 1956 (Die Verbalbildung im Ostjakischen, erschienen 1965). Ab 1956 Tätigkeit als Assistent bei der Sprachwissenschaftlichen Kommission der Deutschen Akademie der Wissenschaften in Berlin; 1961 Oberassistent. Anschließend Assistent am Finnisch-Ugrischen Seminar der Universität Hamburg. 1965 außerordentlicher Professor am Lehrstuhl für Finnougristik der Ludwig-Maximilians-Universität München. Emeritierung 1989. Lehrtätigkeit bis 1999.
(Anna Widmer)
Werke (Auswahl):
- Ganschow, Gerhard. (1965). Die Verbalbildung im Ostjakischen. – (Ungarische Jahrbücher 13). Wiesbaden
- Ganschow, Gerhard. (1968). "Zur Geschichte der Nominalstämme in den ugrischen Sprachen." – CSIFU: 134–145. Budapest
- Ganschow, Gerhard. (1970). "Wege zur Strukturbeschreibung des einfachen Satzes im Ostjakischen." – Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen: Symposium über Syntax der uralischen Sprachen. Göttingen S. 65–76.
- Ganschow, Gerhard. (1977). "Finnisch-ugrische und obugrische Lautgeschichtsforschung." Nyelvészeti dolgozatok 165. Szeged S. 235–254.
- Ganschow, Gerhard. (1979). "Adnominale Transformation der bipolaren Verbalsätze im Scherkal-Ostjakischen." – Veröffentlichungen der Societas Uralo-Altaica 12. Wiesbaden S. 99–106.
- Ganschow, Gerhard. (1988). "Bemerkungen zur Frage des Alters des qualitativen Vokalwechsels." – Ural-Altaische Jahrbücher N.F. 8: 51–76. Wiesbaden
- Ganschow, Gerhard. (1993). "Die beiden nominalen Urtypen der finnisch-ugrischen Sprachen und ihre Derivation." – Mémoires de la Société Finno-Ougrienne 215: 75-84. Helsinki
- Ganschow, Gerhard. (2004). "Geschichte der finnougrischen Nominalstämme" Finnisch-Ugrische Mitteilungen 26/27: 1–52. Hamburg